Am 1. Oktober 1957, kam Contergan in Deutschland auf den Markt, hergestellt von der Stollberger Firma Grünenthal. Es war ein Schlafmittel, das auch für Schwangere gut verträglich sein sollte. In der Folge kamen tausende Kinder mit Fehlbildungen und fehlenden Gließmaßen zur Welt.
Der Bund Contergangeschädigter und Grünenthalopfer (BCG) in Köln hat aus diesem Anlass eine Mahnwache vor den Werkstoren von Grünenthal veranstaltet und zu einem Boykott von Produkten von Grünenthal und seiner Tochterunternehmem aufgerufen. Es geht unter anderem um zu geringe Entschädigungsleistungen. Grünenthal zahlte damals über 100 Millionen Mark plus 10 Millionen Zinsen in eine Stiftung ein. Der deutsche Staat zahlte weitere 100 Millionen DM ein. Streitpunkt ist seit Jahrzehnten die geringen Rentenleistungen. Knapp über 500 Euro bekommt ein Contergangeschädigter maximal im Monat. Das deckt weder Pflegekosten noch sonstige Aufwendungen.
In den Leserbriefen bei Kobinet liefern sich derzeit Contergangeschädigte und Mitarbeiter von Grünenthal einen Schlagabtausch. Die Mitarbeiter fürchten um ihre Arbeitsplätze, wenn Grünenthal noch einmal zur Kasse gebeten würde und kritisieren den Boykottaufruf. Die Contergangeschädigten wollen selbstbestimmt leben, dafür reicht aber das Geld nicht. Und um die Gerechtigkeit geht es natürlich auch. Unterdessen zahlt der deutsche Steuerzahler nämlich die Renten, weil das Geld von Grünenthal längst aufgebraucht ist.
Ich kann die Empörung der Contergangeschädigten verstehen, auch wenn ich finde, dass sie bereits in den vergangenen Jahren besser ein wenig lauter gewesen wären. Ich finde den Vergleich, der damals ausgehandelt wurde, völlig realitätsfern. Niemand hat darüber nachgedacht, wie man die Pflege von jemandem ohne Arme und Beine dauerhaft finanzieren soll. Vieles wurde auf die unterdessen betagten Eltern abgewälzt. Wer einen Schaden verursacht, muss ihn auch wieder gut machen. Warum das bei Grünenthal nicht gilt, verstehe ich nicht. Mit Schaden meine ich in erster Linie, dass behinderungsbedingte Kosten übernommen werden. Es geht nicht darum, Milionen an Schmerzensgeld auszuzahlen, sondern einen wirklichen Nachteil auszugleichen.
Ich bin selber durch einen ärztlichen Kunstfehler querschnittgelähmt und mein Lebensstandard ist nur deshalb ein normaler, weil nicht auch noch die behinderungsbedingten Mehrkosten auf meinen Schultern lasten. Die Berufshaftpflichtversicherung des verursachenden Arztes tritt dafür ein. Um mal ein Beispiel zu nennen: Der Umbau meines Autos auf Handgas und Handbedienbremse hat fast 4000 Euro gekostet. Wäre ich contergangeschädigt hätte ich dafür in Deutschland unter Umständen keinen Kostenträger. Die Krankenkassen sind für sowas nicht zuständig. Teilweise zahlen die Arbeitsämter den Umbau, aber nur wenn man eine Arbeitsstelle hat. Nun ist die Beschäftigungsquote von Leuten mit derartigen Behinderungen aber eher bescheiden. Die Mehrheit hat also keinen Kostenträger. Und es gäbe noch viele andere Beispiele. Eine 24-Stunden-Assistenz, die jemand, der keine Beine und Arme hat, unter Umständen braucht, deckt die Pflegeversicherung nicht ab. Das Sozialamt springt ein und ich kenne mehrere Leute, die auf Hartz IV-Niveau runtergekürzt wurden, um die Pflegekosten zu decken (die Angehörigen auch gleich mit). Und da verstehe ich die Wut so mancher Leute auch nach 50 Jahren schon, wenn sie erahnen, wie die Bilanzen der Firma Grünenthal aussehen.
Die wenigsten wollen sich bereichern, sondern ein einigermaßen normales Leben führen, was mit 500 Euro nicht zu machen ist. Behindert sein ist teuer.
Die Tagesthemen haben vor ein paar Tagen eine Bericht zu Contergan gezeigt und dabei einen Mann ohne Arme porträtiert. Er ist Stellvertreter des Landrats und Paralympicsteilnehmer. „Ganz beeindruckend“, „toll wie er sein Leben meistert“ und andere Floskeln kamen schon in der Anmoderation vor. Sie haben auch erwähnt, dass es die Mahnwache vor dem Werksgelände gab. So ganz stimmig war der Teil der Sendung nicht. Und ganz fair war auch der Interviewte nicht. Er hat eher abfällig über die Leute geredet, die sich immer noch an Grünenthal reiben. Die Lebenssituation von Contergangeschädigten ist eben nicht homogen. Wer einen Arbeitsplatz hat und nicht auf Pflege angewiesen ist, den interessiert Grünenthal vielleicht nicht mehr. Ich interessiere mich auch nicht mehr für den Arzt wegen dem ich querschnittgelähmt bin – jedenfalls so lange nicht wie seine Versicherung meine behinderungsbedingten Kosten begleicht. Ich kann aber Leute verstehen, die sich alles vom Mund absparen müssen, für jeden Mist mit den Behörden und Krankenkassen diskutieren müssen und die wissen, der eigentliche Verursacher würde Hilfsmittel xy aus der Portokasse zahlen. Das würde mich wahrscheinlich auch bis an mein Lebensende an Werkstore treiben.