Ich lese mir gerade das Echo zum A-Tag, einer Konferenz rund um Barrierefreiheit in Wien durch, und bin unter anderem über den Vortrag von Christian Heilmann gestolpert. Gestolpert deswegen, weil ich dachte, ich wäre in eine Zeitmaschine gestiegen ins Jahr – sagen wir – 2000. Zuvor hatte ich schon auf Twitter gelesen, dass die Barrierefreiheit im Internet erst am Anfang stehe.
2000 war das Behindertengleichstellungsgesetz in Deutschland noch nicht verabschiedet, die Diskussionen darum liefen auf Hochtouren. Klar war damals aber schon, das Internet muss in einem Gesetz vorkommen. Die Barrierefreiheit muss sich auch auf das Internet beziehen.
Jetzt haben wir das Jahr 2009. Das Behindertengleichstellungsgesetz ist seit 2002 in Kraft, mit ihm die BITV. Zudem gibt es ein Antidiskriminierungsgesetz in Deutschland, ein Behindertengleichstellungsgesetz in Österreich, in UK das DDA, in den USA das ADA und die Section 508, die Barrierefreiheit im Internet regelt. Und zudem viele viele regionale Gesetze und Gesetze in anderen Ländern. Und dann lese ich tatsächlich von Geduld, die man mit den Entwicklern und Designern haben müsse!? Davon, dass man Barrierefreiheit nicht von oben herab verordnen dürfe. Und frage mich: Huch? Habe ich was verpasst? Hat jemand all die oben genannten Gesetze und Richtlinien außer Betrieb genommen? Es ist doch bereits verordnet. In noch nicht allen Bereichen und Ländern, aber wir stehen definitiv nicht am Anfang.
Und dann die Sache mit der Geduld: Ich bin definitiv kein ungeduldiger Mensch. Das kann ich mir gar nicht erlauben. Ich warte ständig auf irgendwas: Dass mir jemand den Seiteneingang aufmacht, dass die Behindertentoilette frei wird, dass mich jemand wegen eines Interviews zurückruft. Mir jemand hilft. Und ich behaupte mal: Vielen anderen behinderten Menschen geht es ähnlich. Wir warten ständig auf irgendwas. Und eben auch auf Gesetzgebungen, die uns den Zugang zur Gesellschaft sichern.
Es gibt so viele Bereiche, in denen ich mir mehr ungeduldige behinderte Mitbürger wünschen würde. Mit Geduld bringt man keinen amerikanischen Supermarktkonzern dazu, seine Webseite barrierefrei zu machen. Mit Geduld hätte es in Deutschland kein Behindertengleichstellungsgesetz samt BITV gegeben. Mit Geduld hätte ich mein Studium heute noch nicht beendet, weil kein Raum verlegt worden wäre.
Designer sind kreative Menschen und sollten diese Kreativität auch nutzen. Aber sobald man etwas „für die Gesellschaft“ entwickelt, also eine große Bank-Webseite zum Beispiel oder ein Informationsangebot, dann kann man sich nicht nur auf Kreativität verlassen. Dann geht es darum, möglichst vielen Menschen Zugang zum Angebot zu eröffnen, eben auch blinden Menschen, Leuten mit motorischen Einschränkungen oder auch gehörlosen Menschen. Sich dabei allein auf das Good Will der Designer zu verlassen, ist ziemlich blauäugig. Es stimmt, es gibt viele Menschen, die sich für das Thema Barrierefreiheit im Internet (und in der realen Welt) begeistern. Aber es wird immer Leute geben, die Verantwortung tragen und sich dennoch nicht dafür interessieren oder es sogar ablehnen. Es gibt Kreative, die sich nur für das Kreative interessieren und nicht dafür, ob die Seite irgendjemand lesen kann.
Ich hatte mal das zweifelhafte Vergnügen mit einem angesehenen Architekten in einem Bauausschuss zu sitzen. Der erzählte uns ständig von der „Schönheit der Treppe“ und warum man auf Stufen in keinem Fall verzichten dürfe, schon aus Designgründen. Dass man auch ohne Stufen schönes Design entwickeln kann, wollte er nicht hören. Letztendlich hat ihn die Bauordnung indirekt in die Schranken gewiesen. Es ging um ein öffentliches Gebäude.
Ich glaube also nicht daran, dass man jeden Designer und jeden Entwickler nur über „gut Zureden“ erreicht. Und auch in kreativen Berufen muss man damit leben, dass man nicht für die Kunst, sondern für den Benutzer entwirft und entwickelt. Und dass der Benutzer eine Behinderung haben kann, gehört durchaus dazu.
Ja, ich bin für Inspiration und Überzeugungsarbeit. Aber ich bin nicht naiv. Dafür stehe ich zu oft vor Stufen, für die es „eigentlich längst eine Rampe hätte geben sollen“ oder Menschen, die sich für nicht zuständig erklären. Ich bezweifele, dass die IT- und Designmenschen per se bessere Menschen sind und Gesetze und Urteile nicht brauchen. Ich denke mittlerweile sogar: Es ist mir egal, warum etwas barrierefrei ist – aus Empathie oder aus Zwang – hauptsache ich kann patizipieren. Das hält mich ja nicht davon ab, besonders engagierte Menschen und Projekte zu würdigen.