Das deutsche Problem mit Oscar Pistorius
„Unversehrt“, sagte Tom Buhrow in den „Tagesthemen“. Nein, das war keineswegs vor 20 Jahren, sondern heute abend. Er bezeichnete damit die Konkurrenten des behinderten Sportlers Oscar Pistorius. Für alle, die ähnlich sportinteressiert sind wie ich – nämlich gar nicht: Oscar Pistorius ist Sprinter und Weltrekordhalter, der mit zwei Unterschenkelprothesen läuft.
Bild: Elvar Freyr Lizenz: Creative Commons Attribution 2.0 Generic (CC BY 2.0)
Ich musste mich versichern, nicht eine historische Version der „Tagesthemen“ zu sehen, denn ich glaube, die Begriffe „versehrt“ / „unversehrt“ habe ich zuletzt vor 20 Jahren gehört. Ich habe als Kind mal Leistungssport gemacht und der noch aus Nachkriegszeiten stammende Verein hieß damals „Versehrtensportgemeinschaft“. Da hörte ich das Wort zum letzten Mal.
Ich reite auf den Begriffen so herum, weil ich glaube, dass sie ein Symptom sind, ein Symptom dafür, wie Behinderung in Deutschland gedacht und seit Jahrzehnten kaum neu definiert wird. Da nutzen auch die schönsten Papiere nichts, die von irgendwem herausgegeben werden. Die Gesellschaft hält in großen Teilen an dem Bild eines nicht leistungsfähigen, „versehrten“ Behinderten fest. Und da passt es auch ganz gut, dass Tom Buhrow im weiteren Verlauf der Sendung von „gesunden“ Sportlern spricht. Oscar Pistorious ist aber nicht krank. Dementsprechend sind seine nicht behinderten Kollegen auch nicht „gesund“, sondern eben „nicht behindert“. Ein behinderter Mensch kann genauso gesund und krank sein wie ein nicht behinderter Mensch. Das will aber irgendwie nicht in die Köpfe der Leute hinein. Behinderung wird immer noch als in erster Linie medizinisches Problem angesehen, nicht als gesellschaftliches.
So lange das so ist, wird man sich auch weiterhin bestenfalls über die Leistungsfähigkeit behinderter Menschen wundern, schlechtestenfalls in Frage stellen, womit wir wieder bei Oscar Pistorius wären. Ich halte es für keinen Zufall, dass die Hauptzweifel an Pistorius‘ Leistungsfähigkeit aus Deutschland kommen. Es war die Sporthochschule in Köln, die Pistorius attestierte, er habe Vorteile durch seine Prothesen. Der Internationalen Sportgerichtshof CAS und andere Gutachter sahen das anders. Deshalb darf Pistorius bei den Olympischen Spielen starten, wenn Südafrika ihn nominiert.
Clemens Prokop, der Präsident des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV), wird von Stern.de wie folgt zitiert: „Bei aller Wertschätzung für Pistorius, aber durch seinen Start verliert die Leichtathletik ihre Identität. Leistung ist nicht mehr die Summe aus Talent und Training.“
Weil ein behinderter Mensch mit Prothesen startet, glaubt der Deutsche Leichtathletik-Verband, der Sport verliere seine Identität. Im Großbritannien sieht man das übrigens ganz anders. Da ist Pistorius ein „sportlicher Held“, wie der Telegraph schreibt, den die Leute mögen und der großartige Leistungen zeigt. Die Leute freuen sich auf Pistorius und dass er wahrscheinlich starten wird. Aber in Großbritannien bezeichnet auch kein Nachrichtensprecher nicht behinderte Sportler als „gesund“ und Behinderung gilt in erster Linie als gesellschaftliches Problem, nicht als medizinisches.
Ich glaube, es gibt ein Tabuthema in Deutschland. Das heißt „Leistungsfähige Menschen mit Behinderungen“. Das schlägt sich nicht zuletzt in der Beschäftigungsquote behinderter Menschen nieder. Es wird behinderten Menschen oft nichts zugetraut. Und wenn sie dann das Gegenteil beweisen, also zum Beispiel schnell genug laufen wie Pistorius, wird alles getan, die Leistung herabzusetzen. Es kann nicht sein, was nicht sein darf.
Solche Beispiele gibt es auch im Alltag. Ich wurde mehr als einmal gefragt, als ich sagte, dass ich für dpa arbeite, wer mich denn eingestellt habe. Oder man sagte mir: „Sie hatten den Job doch sicher schon vor dem Unfall.“ Welcher Unfall? Hä? Ich hatte keinen Unfall.
Und die Steigerung dessen sind Menschen, die glauben, man nehme als behinderter Mensch nicht behinderten die Arbeitsplätze weg, da ja für uns „sowieso gesorgt“ sei. Auch das habe ich schon erlebt.
Es nutzt nichts, sich darüber aufzuregen. Es nutzt nur, das Gegenteil zu beweisen und die Menschen zum Umdenken zu bewegen. Diese Bemühungen würden allerdings schneller voran kommen, wenn gestandene Journalisten, die sonst jedes Wort drei Mal überlegen, wenn sie ihre Moderation schreiben, auch mal ihre Sichtweise überdenken. Die Medien spielen eine nicht zu unterschätzende Rolle beim Umdenken. Mit der Berichterstattung über Oscar Pistorius könnte man mal zeigen, wie weit man damit schon ist.