Normalerweise ist die Botschaft eines Filmes für alle verständlich. Bei „Das Meer in mir“ scheint das definitiv nicht so zu sein. Zumindest habe ich den Eindruck, dass ich in meinem Umfeld die Einzige bin, die die Botschaft „Barrierefreiheit schafft Lebensqualität“ in diesem Film entdeckt hat.
Der Inhalt in Kurzfassung: Ramon Sampedro hat Anfang 20 einen Badeunfall und ist seitdem ab Hals querschnittgelähmt. Er liegt den ganzen Tag im Bett, einen Rollstuhl lehnt er ab. Das erinnere ihn zu sehr an den Rest der Freiheiten, die er früher hatte. Sein Bruder, seine Schwägerin und sein Neffe kümmern sich um ihn. Er lebt in seinem Zimmer im 1. OG eines alten Hauses mit Wendeltreppe. Ramon hält sein Leben für „unwürdig“, wie er sagt, und kämpft vor Gericht für die aktive Sterbehilfe. Ohne Erfolg. Mit Hilfe von Freunden nimmt sich Ramon mit Zyankali das Leben. Der Film basiert auf einer wahren Geschichte.
Schon zu Beginn des Films wird klar und deutlich gesagt, dass er einen Rollstuhl ablehnt. Damit schränkt er seine Möglichkeiten mehr ein als notwendig. Als ihn ein Pfarrer, der selbst nur noch den Kopf bewegen kann, besuchen kommen will, scheitert das daran, dass der Rollstuhl zu breit für die Wendeltreppe ist. Die tragisch-komische Szene führt dazu, dass ein Assistent des Pfarrers die Botschaften der beiden vermitteln muss. Er rennt zwischen beiden hin und her. Im Gegensatz zu Ramon ist der Pfarrer, trotz ähnlicher Behinderung, mobil, kommt mit dem eigenen Auto, das seine Assistenten fahren und er hat Assistenz. Ramon dagegen ist auf seine Familie angewiesen, die die Pflege zwar ganz selbstverständlich leistet, aber dafür selbst zurückstecken muss.
Ramon bemängelt seine fehlende Intimsphäre – er kann wirklich nichts alleine machen. Er hat keinen E-Rolli, den lehnt er ja ab. Das heißt, er kann sich nicht alleine bewegen, nicht alleine sein. Er hat keinen Computer – im Gegensatz zu seinem Neffen. Er lässt den Neffen tippen statt selbst den Computer zu nutzen.
Ich habe noch nie einen Film gesehen, bei dem so viele Szenen vorkamen, bei denen ein Rollstuhlfahrer mühselig die Treppe hochgetragen wird. Und ich gebe Ramon recht – das ist entwürdigend. Aber es ist nichts, was man nicht ändern kann. Warum muss ein Querschnittgelähmter im 1. OG mit Wendeltreppe ohne Fahrstuhl leben? Warum findet die Gerichtsverhandlung nicht in einem barrierefreien Gericht statt? Warum muss er zu seiner eigenen Verhandlung getragen werden? Warum ist die Assistenz nicht unabhängig von der Familie gesichert? Warum kann er sich seine Assistenten nicht aussuchen?
Die Antwort auf diese Fragen heißt nicht, weil er behindert ist. Die Antwort lautet, weil sich die Gesellschaft – in diesem Fall die spanische – nicht auf die Bedürfnisse behinderter Menschen eingestellt hat. Vielleicht hat er auch deswegen resigniert und verweigerte, im Rollstuhl durch die Gegend zu fahren. In einer barrierefreien Umgebung macht es Spaß, Rollstuhl zu fahren. Anderswo nicht so sehr.
Was ich sehr bedauere ist, dass viele Kritiker und auch einige Kinobesucher aus dem Film gehen mit dem Gedanken „In seiner Situation kann ich verstehen, dass er sich umbringt“. Kaum jemand sieht, dass diese Situation in erster Linie ein gesellschaftliches Problem ist, kein behinderungsbedingtes. Um das aber aus diesem Film zu schließen – und dazu braucht es eigentlich nicht viel – muss man aber bereit sein, sich einzugestehen, dass man selbst zur Lebensqualität behinderter Menschen beitragen kann und auch Verantwortung diesbezüglich hat: Organisiere ich eine Veranstaltung so, dass alle, die möchten, daran teilnehmen können oder findet die Veranstaltung im 3. OG ohne Fahrstuhl statt? Ist die Kneipe, die ich eröffne, für Rollstuhlfahrer zugänglich oder nicht? Stelle ich als Arbeitgeber behinderte Menschen ein oder nicht? Verkaufe ich meine Dienstleistung auch an behinderte Menschen oder lieber nicht? Ist meine Internetseite barrierefrei oder nicht?
Es gibt im Alltag Tausende dieser Fragen. Wenn sich mehr Menschen diese Fragen stellen würden, würde sich die Lebenssituation behinderter Menschen erheblich verbessern ohne dass die Behinderung oder gar das Leben bekämpft werden müsste.