Als ich gestern abend die „heute“-Sendung um 19.00 Uhr gesehen habe, gefror mir förmlich das Blut in den Adern. Dort wurde ein Gerät vorgestellt, dass es Rollstuhlfahrern ermöglichen soll, irgendwann zu laufen. Das Video ist auch online abrufbar. Vorgestellt wird dort ein 9-jähriger Junge, der Osteogenesis Imperfekta, also Glasknochen hat und dadurch kleinwüchsig ist und sich im Rollstuhl fortbewegt. So wurde das alles aber schon gar nicht formuliert. Der Junge „leidet“ natürlich an einem „genetischen Defekt“, musste Knochenbrüche „erleiden“… Das Schüttelbrett soll ihn dazu bringen, dass er irgendwann laufen kann. Klasse! Und auf die Frage des Reporters, was er sich denn wünsche, antwortet das Kind: „Dass ich mal besser laufen kann. (…) In zwei Jahren.“
Ich muss mich doch sehr wundern, dass das ZDF zur Hauptsendezeit zum einen einer sehr fragwürdigen Methode derart viel Zeit einräumt und dann eine Mitleidsgeschichte auftischt, die so gar nicht zu einer seriösen Nachrichtensendung passen will. Da werden behinderte Kinder als „Patienten“ betitelt. Die Kinder sind aber gar nicht krank, das sind sie, wenn sie die Grippe haben. Die Kinder haben eine Behinderung. Die Ärzte machen sie zu Patienten.
Zugleich wird den Zuschauern vermittelt, dass es nichts besseres für die Kinder gebe, als ihren Rollstuhl verlassen zu können. Als ich in dem Alter war, habe ich meinen Rollstuhl geliebt. Ich war schneller als in irgendwelchen Gehapperaten. Letztendlich kann man viele behinderte Kinder irgendwie zum „Gehen und Stehen“ bringen. Man stellt sie an Stehtische, bindet sie fest, damit sie nicht umfallen oder verpasst ihnen Gehapperate, die zu meiner Kindheit fast so viel wogen wie mein eigenes Körpergewicht. Das ist schön für die Erwachsenen, die Eltern sind beruhigt, alles für ihr Kind getan zu haben, aber die Kinder sind nicht selten ziemlich unglücklich. Trotzdem hat mich nie jemand dazu gebracht als Kind zu äußern, Laufen zu können, sei mein größter Wunsch.
Diese Aussage ist so traurig, denn die meisten dieser Kinder werden nie laufen können, auch wenn die Ärzte noch so viel an ihnen rumdoktern. Es ist viel wichtiger, den Kindern zu vermitteln, dass sie so, wie sie sind, in Ordnung sind. Dass der Rollstuhl ihnen Mobilität gibt. Und das muss man auch den Eltern vermitteln. Hat sich mal irgendjemand der Beteiligten überlegt, was es für ein Kind bedeutet, von morgens bis abends zu hören, dass es Laufen können muss, es aber nicht laufen kann?
Natürlich ist es richtig, den Kindern so viel Selbstständigkeit wie möglich zu geben und ihnen bestimmt Fähigkeiten beizubringen. Aber nur, wenn es wirklich sinnvoll ist. Ich habe mich mit 14 Jahren geweigert, weiter Krankengymnastik zu machen. Ich habe darin keinen Sinn gesehen und wollte lieber ins Kino und mich mit meinen Freunden treffen. Es gab keinerlei Verbesserungen und ich hatte den Verdacht, dass sich auch nichts verschlechtern wird. Es gab einen riesen Ärger deswegen. Alle, außer ich, waren der Auffassung, dass Krankengymnastik gut für mich ist. Nun mache ich seit 15 Jahren keine mehr und habe Jahre meiner Lebenszeit dadurch gewonnen. Jaja, ich weiß, dass wäre das Ende eines Berufsstandes, wenn das noch mehr Leute so machen würden und vielen tut es ja auch gut. Mir nicht. Und manchen Kindern wäre auch besser damit geholfen, ihnen zu vermitteln, dass es schon okay ist, wenn sie nicht laufen können anstatt sie auf Rüttelbretter zu stellen und ihnen einzureden, dass sie in zwei Jahren laufen können.
Die Mehrheit der Leute, die ich kenne, die seit ihrer Kindheit eine Gehbehinderung haben, können alle von irgendwelchen Experimenten erzählen, sie zum (besseren) Laufen zu bringen. Aber fast alle, die ich kenne – ganz gleich, ob das Leute mit einer Querschnittlähmung sind oder Leute mit Glasknochen oder etwas anderem – fahren als Erwachsene Rollstuhl und sind zufrieden damit. Wann wird den Kindern endlich vermittelt, dass auch Rollstuhl fahren eine sinnvolle Variante ist, sich fortzubewegen? Wann akzeptieren Ärzte und Eltern, dass vieles, was sie als „Therapie“ verstehen, einfach Quälerei ist und dem Kind ständig vermittelt, es sei verbesserungswürdig? Und wann muss ich mir nicht mehr – sogar bei den Öffentlich-Rechtlichen – Heilsversprechen anhören, die in den wenigsten Fällen zu halten sind und nur zu einem führen: Ein Bild behinderter Menschen zu vermitteln, das der Gleichberechtigung behinderter Menschen massiv im Weg steht?