Von Spreu und Weizen

Es gab einen Fahrerwechsel auf dem Weg zu meinem Schneider, der mir nur schnell einen Knopf an meinem Mantel wieder annähen wollte. Ich war zuvor problemlos in den Bus eingestiegen und dachte, ich käme auch problemlos wieder raus. Die Rampe funktionierte, der Bus war ein eher neueres Modell und es war kein Doppeldeckerbus. Die Rampen an den kleinen Bussen funktionieren oft besser als bei den Doppeldeckerbussen. Keine Ahnung warum.

Ich drückte den Knopf mit dem Rollstuhlsymbol, aber der Fahrer reagierte nicht. Ich rief nach vorne, dass er mir doch bitte die Rampe ausfahren solle. „Ich kann Sie nicht hören“, antwortete er. Erst dachte ich, er hört mich wirklich nicht, was angesichts der Größe des Busses schon etwas ungewöhnlich war. Ich bat ihn weitere zwei Mal die Rampe auszufahren, aber die Antwort war immer wieder die Gleiche: „Ich kann Sie nicht hören.“ Nach dem dritten Mal fügte er hinzu: „Sie müssen bis zur nächsten Haltestelle warten.“ Er hatte mich also sehr wohl verstanden.

An der nächsten Haltestelle, die sehr weit von meinem Schneider entfernt war, sagte mir der Busfahrer in sehr barschem Ton, die Rampe sei defekt. Er hatte nicht einmal versucht, sie auszufahren. Das wusste ich, weil es einen Warnton gibt, wenn die Rampe ausfährt. Da wurde mir klar, dass er mich vorher gehört hatte und mich einfach schikanieren wollte.

Ich blieb ganz ruhig und sagte: „Okay, und was schlagen Sie vor, wie ich jetzt den Bus verlassen soll?“. Plötzlich sprang er auf, knallte mit der Tür seiner Fahrerkabine, vielleicht trat er auch gegen sie, und schrie mich an. Schimpfte auf den Bus, auf mich, auf das Leben, fluchte und baute sich vor mir auf und beschimpfte mich. „Sie brauchen mich nicht anzuschreien“, sagte ich. „Ich werde Sie so oder so Ihrem Arbeitgeber melden. Lassen Sie mich bitte aus dem Bus.“ Daraufhin zog er mich ohne Rampe aus dem Bus und rauschte davon.

Ich nahm sofort mein Handy und rief die Verkehrsbetriebe an, um ihnen mitzuteilen, dass einer ihrer Fahrer wohl ein kleines Aggressionsproblem hat, das er offensichtlich an Rollstuhlfahrern auslässt. Die Frau der Beschwerdehotline war deutlich hörbar betroffen, entschuldigte sich in aller Form, versprach mir, ein Disziplinarverfahren einzuleiten, aber mein Tag war eigentlich gelaufen.

Situationen wie diese passieren nicht ständig, aber sie kommen leider viel zu oft vor. Ich bejammere das nicht, aber es ist so. Häufig denken Menschen, die mich (und andere Menschen mit einer sichtbaren Behinderung) so behandeln, dass wir uns nicht wehren. Deshalb trauen sie sich überhaupt, sich so aufzuführen. Spätestens wenn ihn sein Manager zum Gespräch bittet, wird er eines Besseren belehrt werden. Das ist das, was mich in solchen Situationen beruhigt. In dem Moment, in dem ich mich beschwere, habe ich wieder ein Stück Kontrolle zurück.

Als ich twitterte und auf Facebook schrieb, dass ich gerade einen Busfahrer gemeldet habe, weil er mich angeschrien hat und mir die Rampe ohne Grund nicht ausfuhr, dauerte es nicht einmal 30 Sekunden bis sich die ersten Freunde bei mir meldeten und mir Mut zusprachen und einfach nett waren. Das sind so Momente, wo mir mal wieder bewusst wird, wie viele unglaublich nette Menschen ich um mich herum habe, die verstehen, was Diskriminierung bedeutet, auch wenn sie selber vielleicht nie wirklich diskriminiert wurden.

Vergangene Woche war ich auf einem Geburtstag eingeladen. Ich kannte das Geburtstagskind nicht gut. Ich hatte ihn in meinem Leben drei Mal getroffen, davon zwei Mal auf einer sehr lauten Party. Wir haben getanzt, aber nicht sehr viel geredet. Es war einfach zu laut. Ich war, ehrlich gesagt, ein bisschen überrascht, dass er mich überhaupt zu seinem Geburtstag einlädt, aber ich habe mich gefreut. In der Einladung stand auch, dass er extra eine barrierefreie Location ausgesucht habe. Da musste ich an Rauls Blogeintrag denken, in dem er schreibt:

„Zu Geburtstagen werde ich oft nicht eingeladen, bei Partys nicht gefragt und bei Urlaubsplänen außen vor gelassen, weil die peinliche Situation vermieden werden soll, in der gemeinsam erkannt wird, dass die entsprechende Aktivität nicht barrierefrei möglich ist.“

Die Einladung des mir fast fremden Geburtstagskindes war für mich ein schönes Beispiel dafür, dass das nicht so sein muss, wenn die Leute einfach nur ein bisschen mitdenken. Und ich muss sagen, ich habe so gut wie nur noch Leute um mich herum, die genau das tun, mitdenken eben – offensichtlich selbst dann, wenn sie mich kaum kennen: Freunde reservieren in barrierefreien Restaurants Tische, buchen selbstverständlich einen Rollstuhlplatz für Konzerte ohne dass ich darum bitten muss, checken vorher, ob etwas barrierefrei ist und sagen mir, ohne dass ich überhaupt frage, wie die bauliche Situation ist, damit ich entscheiden kann, ob ich mit möchte. All das ohne peinliche Diskussion, sondern es ist einfach normal.

Es ist kein Zufall, dass das so ist. Wer, wie ich, ein Leben mit ein paar mehr Herausforderungen als man normalerweise so hat, führt, der tut sich keinen Gefallen daran, sich mit Menschen aufzuhalten, die die Behinderung nicht akzeptieren. Mit „nicht akzeptieren“ meine ich zum Beispiel Menschen, die mich nicht zum Geburtstag einladen, wie Raul es erwähnt, sich keine Gedanken machen und peinlich berührt sind, wenn es nicht klappt. Ich finde das sehr anstrengend. Diese Anstrengung kann und mag ich mir aber nicht leisten, weil ich ja sonst keine Kraft mehr habe, mich mit den Leuten auseinander zu setzen, die ich mir nicht aussuchen kann: Aggressive Busfahrer zum Beispiel. Ich brauche dafür ein Netzwerk, das mich unterstützt und nicht nur bedauert, das mir auf die Schulter klopft und sich mit mir über den Busfahrer empört. Ich brauche ein Umfeld, das mir nicht noch mehr Herausforderungen schafft als ich sowieso schon habe. Und so trennt sich Spreu und Weizen sehr schnell bei mir. Ich merke ziemlich schnell, wer meine Behinderung akzeptiert und wer nicht. Die zweite Gruppe wird es nie leicht haben mit mir. Ich kann mir das nicht leisten, aber das ist auch in Ordnung so. Die erste Gruppe ist mehr als groß genug.