Wer braucht schon behinderte Wähler?
Als ich gestern die Wahlarena in der ARD mit dem SPD-Spitzenkandidaten Steinbrück sah, saß ich irgendwann wirklich verärgert vor dem Fernseher. Um es vorweg zu sagen, ich bin mit keiner Partei verheiratet, bin klassische Wechselwählerin und das hier soll kein Angriff gegen eine bestimmte Partei sein. Im Gegenteil. Ich halte den Auftritt von Steinbrück und den Dialog mit dem Rollstuhlfahrer für symptomatisch dafür, wie die deutsche Politik mit ihren behinderten Wählern umgeht. Sie ignoriert ihre Anliegen, hat null Ahnung, was den Leuten am Herzen liegt, weil sie glaubt es handele sich um eine kleine Minderheit.
Es meldete sich in der Wahlarena also ein Rollstuhlfahrer, der sich darüber beschwerte, dass er zwar jahrzehntelang in die Kranken- und Rentenversicherungssysteme eingezahlt hat, aber Probleme hat, einen Rollstuhl finanziert zu bekommen. Wer es sich noch einmal anhören möchte, das Video gibt es in der Mediathek, besagte stelle findet sich in Minute 57. Es geht bei Rollstühlen keineswegs um Zuzahlungen, sondern um die volle Kostenübernahme. Ein angepasster Rollstuhl kostet mehrere tausend Euro, ein elektrischer Rollstuhl das Doppelte.
Ahnungslos
Zusammenfassend: Steinbrück zeigt sich ziemlich ahnungslos bei dem Thema, verweist auf die Belastung der Kassen, meint ein Gesundheitsminister müsse sich des Themas mal annehmen und hofft, dass die Verantwortlichen bei den Krankenkassen die richtigen Entscheidungen treffen.
Ernsthaft? Und das nachdem der Moderator ihn noch darauf hingewiesen hat, dass jedes dritte Hörgerät in Deutschland erst einmal abgelehnt wird. Nun ist Steinbrück kein Sozialpolitiker, aber genau darum geht es: Solche Themen müssen mal raus aus der „Gedöns“-Ecke. Denn es ist auch ein volkswirtschaftliches Problem, behinderte Menschen auszugrenzen. Und genau das passiert, wenn ein beschäftigter Rollstuhlfahrer keinen Rollstuhl mehr bekommt. Er kann nicht mehr arbeiten gehen, nicht mehr am öffentlichen Leben teilnehmen und seine Zeit mit Rumärgern mit der Krankenkasse verbringen statt Geld auszugeben und Steuern zu zahlen.
Was kümmert mich mein Gesetz von gestern?
Es ist wirklich zum Volkssport von Leistungs- und Kostenträgern geworden, behinderten Menschen jeden Stein in den Weg zu legen, den es gibt, statt ihnen Teilhabe zu ermöglichen, wie es das Gesetz von ihnen verlangt. Wieso macht der Gesetzgeber eigentlich Gesetze, wenn es ihm anschließend egal ist, ob diese von den Trägern eingehalten werden?
Wenn Steinbrück mal in sein eigenes Wahlprogramm geschaut hätte, dann hätte er gelesen, dass die SPD einen Paradigmenwechsel in der Behindertenpolitik anstrebt. Ich zitiere: „Wir wollen ein für alle Sicherungssysteme und Leistungsträger einheitliches Bedarfsermittlungssystem schaffen. Damit sollen individuelle Beeinträchtigungen von Menschen erkennbar und tatsächliche Hilfebedarfe ermittelt werden. Problematische Schnittstellen zwischen Trägern von Sozialleistungen müssen zugunsten einheitlicher Verfahren abgebaut werden. Der Anspruch auf Hilfe zur Inklusion wird nicht mehr als Fürsorgeanspruch, sondern als Anspruch zum Ausgleich von Nachteilen ausgestaltet.“
Nicht so im Thema drin
Und was sagt der Kanzlerkandidat? Er sei nicht so im Thema drin. Es geht ja nur – ich zitiere das Statistische Bundesamt – um 7,3 Millionen schwerbehinderte Menschen in Deutschland. Das sind fast 9 Prozent der Bevölkerung. Die Menschen wiederum haben Angehörige, die unmittelbar davon betroffen sind, wenn ihr behinderter Angehöriger nicht die optimale Hilfsmittelversorgung erhält, dadurch vielleicht den Job verliert etc. Die Bundesregierung geht übrigens von tatsächlich doppelt so vielen behinderten Menschen aus und spricht von 20% der Bevölkerung.
Nicht auf dem Zettel
Die Parteien haben die Belange von behinderten Menschen nur überhaupt gar nicht auf dem Zettel. Sie versäumen es, 20% der Bevölkerung anzusprechen. Das kann man auch noch einmal schwarz auf weiß nachlesen. Die Deutsche Gehörlosen-Zeitung hatte Parteien einen Fragekatalog mit für gehörlose Wähler relevante Fragen zukommen lassen. Vor Redaktionsschluss nicht geantwortet haben die AfD (geschenkt!) und die SPD (Wie bitte?).
Die CDU hat zwar geantwortet, aber die Antworten sind, wenn man nur ein bisschen Ahnung vom Leben behinderter Menschen hat, teilweise fast komisch. Frage 6 zum Beispiel behandelt die Frage nach dem Zugang zu Gebärdensprachdolmetschern: Sollen alle Behörden, Krankenhäuser, Frauenhäuser und andere wichtige Dienstleister schnell und ohne komplizierten Papierkrieg auf Gebärdensprachdolmetscher zugreifen können, wobei die Kosten automatisch durch neue Finanzierungsstrukturen übernommen werden würden?
Die CDU verweist in ihrer Antwort auf nicht weniger als auf das Bundesbehindertengleichstellungsgesetz (BGG). Naaaaa? Richtig bemerkt. Krankenhäuser, Frauenhäuser und die meisten anderen Dienstleister sind keine Einrichtung des Bundes. Das Gesetz gilt hier gar nicht. Setzen sechs.
Die FDP hat bei zwei der Antworten einfach mal Copy/Paste gemacht und zeugt auch ansonsten nicht wirklich von Kompetenz bei dem Thema. Merkt ja keiner!
Und die LINKE und die Grüne haben zwar interessante Antworten, aber in ihrem Wahlkampf finden sich die Themen so gut wie nicht wieder. Die LINKE hat ihrem einzigen rollstuhlfahrenden Abgeordneten Ilja Seifert, einer Galionsfigur der deutsche Behindertenbewegung, einen so schlechten Listenplatz verpasst, dass er nur schwer wiedergewählt werden wird.
Die PIRATEN-Antworten zeugen immerhin davon, dass viele behinderte Menschen bei ihnen aktiv sind. Das hat sie aber nicht davon abgehalten, ihr Konzept zur Behindertenpolitik nicht rechtzeitig vor den Wahlen in ihr Programm zu schreiben, sondern einen völlig verunglückten Satz reinzudrücken, weil andere Themen auf dem Parteitag irgendwie wichtiger waren.
Nicht sehr schlau
Ja, man kann so Politik machen, es ist nur nicht besonders schlau. Denn wem 20% der Bevölkerung zu wenig sind, sich wirklich mal damit zu befassen, was die Leute bewegt und was geändert werden muss, der darf sich über eine gewisse Politikverdrossenheit behinderter Menschen nicht wundern. So lange alle Parteien das so machen, macht das im Wahlergebnis nichts, aber die erste Partei, die sich wirklich profiliert, könnte meines Erachtens wirklich punkten.
Geht zu den Veranstaltungen!
In diesem Sinne war es gut und wichtig, dass der Rollstuhlfahrer im Publikum saß und eine Frage gestellt hat. Dann wird es schwieriger, behinderte Menschen politisch zu ignorieren. Ich möchte das immer und überall sehen, dass behinderte Menschen zu politischen Veranstaltungen gehen. Schon die Anwesenheit schärft manchmal das Bewusstsein, aber eine Frage zu stellen ist natürlich perfekt.
Behinderte Menschen müssten viel öfter ihre Abgeordneten nerven, auf allen politischen Ebenen. Wenn es normal wird, dass behinderte Menschen an der Politik teilhaben, dann wird es auch nicht mehr so einfach, behinderte Menschen von solchen und anderen Veranstaltungen einfach auszuschließen.